Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser zur korrekten Anzeige dieser Webseite.

Von Erinnerungen gezeichnet

Buch über fürsorgerische Zwangsmassnahmen

Zehntausende Schweizer:innen wurden im 20. Jahrhundert Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Ihr Missbrauch wurde lange verdrängt, die Aufarbeitung nahm erst in den letzten Jahren an Fahrt auf. Simone Stolz will mit ihrem Buch «Grund genug» zum dringlichen Diskurs beitragen und zugleich die Verletzlichkeit der Betroffenen berücksichtigen.

Mit der Erfindung der Fotografie ging einst die Illusion der objektiven Abbildbarkeit der Realität einher. Das neue Medium schien die Welt in ihrem jeweiligen Zustand festhalten und so für spätere Generationen erfahrbar machen zu können. Erinnerungen auf Abruf gewissermassen. Der Filmtheoretiker und Soziologe Siegfried Kracauer wandte ein, dass die Geschichte eines Menschen von der Fotografie wie unter einer Schneedecke vergraben werde. Losgelöst vom Menschen und von der Zeit, in der er gelebt habe, geistere die Fotografie durch die Gegenwart. Die Wesenszüge eines Menschen aber seien allein in seiner Geschichte enthalten. Nun könnte man zahllose Beispiele anführen, um die Ehre der Fotografie zu retten und diese kulturpessimistische Argumentation zu entschärfen. Was aber, wenn wir stattdessen kurz innehalten und uns fragen, wie Momente sonst festgehalten, Erinnerungen lebendig werden können – insbesondere, wenn es nicht die eigenen sind?

Zugang zur Realität
«Das Zeichnen ist mir schon immer wichtig gewesen, es begleitet mich durchs Leben», sagt Simone Stolz beim Kaffee vor dem Bistro Chez Toni. Vor wenigen Monaten hat sie ihr Bachelorstudium in der Fachrichtung Knowledge Visualization abgeschlossen. Ihr Diplomprojekt wurde mit dem Förderpreis Design der ZHdK ausgezeichnet, der ihr nicht nur eine finanzielle Starthilfe in die Selbstständigkeit als Illustratorin beschert hat, sondern auch langfristig Aufmerksamkeit auf ihre Arbeit lenkt. Dabei stand ihr Projekt nicht nur unter guten Vorzeichen: «Die Idee, ein Buch zu machen, stiess auf Skepsis. Für meine Fachrichtung war das ein sehr eigenständiges Projekt.» Dass aus ihrem Projekt ein Buch werden würde, war aber nicht von Beginn an klar. Ausgangspunkt waren vielmehr Stolz’ Arbeitsweise und ihr Medium, das Zeichnen. «Über das Zeichnen erschliesse ich mir die Realität. Ich setze mich hin und skizziere. Meine Konzentration, der Zugriff auf Erlebnisse und Sehgewohnheiten verbinden sich mit der unmittelbaren Erfahrung der Umwelt vor Ort. So halte ich Momente fest.»

Raum für Dialog öffnen
Von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen hörte Stolz zum ersten Mal während eines Aufenthalts in Irland. Doch auch die Schweiz hat eine unrühmliche, in der Öffentlichkeit wenig bekannte Geschichte behördlichen Missbrauchs. Um die herrschende, rigide Vorstellung öffentlicher Ordnung und Moral aufrechtzuerhalten, wurden bis in die 1980er-Jahre zehntausende Kinder und Jugendliche in Heimen und Anstalten fremdplatziert. Dort erlitten sie oft psychische und physische Gewalt. «Mir ging es um die Universalität des Themas, dass Menschen in ein bestimmtes Raster passen müssen. Ich stosse mich auch am mangelnden Unrechtsbewusstsein in der Schweiz, am Fehlen einer öffentlichen Debatte.» Über ihre Recherchen kam sie in Kontakt mit dem Verein Gesichter der Erinnerung, in dem sich zwei Betroffene und eine Historikerin organisiert haben. Die Onlineplattform des Vereins gibt traumatisierten Menschen ein Gesicht und eine Stimme, macht so auf das erlittene Unrecht aufmerksam und trägt zum Diskurs bei. Stolz führte lange Gespräche mit den beiden Betroffenen, sichtete literarische und filmische Quellen. Und begann zu zeichnen. Viele Zeichnungen sind in dieser Anfangsphase entstanden, erst aus dem Kopf, dann vor Ort. «Die Zeichnung ist weniger konkret als die Fotografie und damit anschlussfähig für eigene Erinnerungen. Es öffnet sich ein Raum, in dem ein Dialog stattfinden kann.»

Zeichnen und Zeitlichkeit
Die Zeichnungen wurden Teil der Gespräche, lösten Gefühle und Reaktionen aus: «Ich legte eine erste Skizze vor, meine Gesprächspartnerin kommentierte und meinte, das sei anders gewesen. Ich passte die Skizze an und legte sie ihr wieder vor. So wurden Skizzen zu Zeichnungen und Zeichnungen zu materialisierten Erinnerungen anderer.» Mit der steigenden Zahl Zeichnungen wurde dann auch klar, dass daraus ein Buch werden sollte: «Ich wollte etwas in den Raum stellen, das Gewicht, Materialität und Haltung hat. Das Buch stärkt die verletzlichen Geschichten. Man kann es weglegen und wieder hervorholen. Es soll die Zeit überdauern.» Im Arbeitsprozess konzentrierte sich Stolz auf bewusste Rücksichtnahme und Angemessenheit im Umgang mit den Betroffenen und in der Umsetzung des Buchs. Die Zeitlichkeit, die ihr beim Zeichnen wichtig ist, schlägt sich in der Dramaturgie nieder. Das Lesen wird durch Langsamkeit und Einsamkeit strukturiert, fordert zu Geduld und Aushalten auf.

Die Gegenwart kollidiert mit den Erinnerungen
Entstanden ist ein komplexes Gewebe aus Wort und Bild, unterschiedlichen Texturen, Farben und Perspektiven. Die Motive breiten sich über Doppelseiten aus, werden ins Zentrum einer beinahe leeren Seite gerückt, herangezoomt, über mehrere Seiten variiert und zerfliessen auch mal in der Abstraktion. «Das Buch soll zur Interpretation und Reflexion anregen. Die Leser:innen sollen sich ihr eigenes Bild machen. Explizites wie Gewaltdarstellungen habe ich bewusst weggelassen. Es geht mir um eine systemische Aussage.» Zwei Tage zeichnete sie bei den Heimen, in denen ihre Gesprächspartner:innen einst gelebt und gelitten hatten. Plötzlich kollidierte die Gegenwart mit den erzählten Erinnerungen. Solche Momente waren schwer auszuhalten. Aber die Offenheit, mit der ihr die Betroffenen begegneten, und die Gespräche bestärkten sie im Wissen, auf dem richtigen Weg zu sein. Der Förderpreis ist dabei nur eine Zwischenstation.

Zur vollständigen Meldung
Illustrationen: Simone Stolz
Illustrationen: Simone Stolz